Donnerstag, Jänner 12, 2006

Essay # 2 (13-01-06)

Mauss, Van Gennep

Diskutiere die wichtigsten Aussagen der Werke „Die Gabe“ von Marcel Mauss und „Rites de Passage“ von Arnold Van Gennep.

Wie sind die beiden Autoren im Kontinuum ausgehend vom Durkheim’schen Werk bis zum Strukturalismus einzuordnen?

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Einleitung

In der Kultur- und Sozialanthropologie gibt es viele Wissenschafter, die für diese Disziplin äußerst wichtige und maßgebliche Werke schufen.

Studiert jemand dieses Fach wird er auch über diese Namen nicht herum kommen: Marcel Mauss und Arnold van Gennep, ihres Zeichens beide französische Anthropologen.

Ihre Werke, sowohl „Essay sur le don“ (im Deutschen erschienen unter dem Titel: „Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“) von Mauss also auch „Les rites de passage“ (dt. „Übergangsriten“) von van Gennep trugen wesentlich zu den heutigen Theorien auch in anderen Disziplinen, wie zB. in der Soziologie, bei.



Marcel Mauss

Mauss, der gleichzeitig Emile Durkheims Neffe und auch Schüler war, wurde immer wieder von Kollegen vorgeworfen, in seinen Arbeiten keine Struktur zu verfolgen, geschweige denn, überhaupt ein System zu haben. Nichtsdestotrotz ist „Die Gabe“ insbesondere aufgrund seines Inhalts und der folgenden Theorien sein Meisterwerk gewesen. [1]

Weiters sollte noch bemerkt werden, dass Mauss selber kein großer Feldforscher war, jedoch über ein enormes Wissen über Kulturgeschichte, Sprachen und ethnographische Forschungen verfügte, was es ihm ermöglichte, Phänomene wie Opferungen oder den Austausch von Geschenken zu analysieren. [2]


Die Gabe

Der Austausch von Geschenken stand im Mittelpunkt in „Die Gabe“. Edward E. Evans-Pritchard lieferte das Vorwort dazu und meinte in diesem, dass Mauss immer nur begrenzte Tatsachenbereiche verstehen wollte und dies über die Erfassung sozialer Phänomene in ihrer Totalität erfolgen sollte. [3]

Mauss definiert die zentrale Frage in seinem Essay folgendermaßen: „Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, dass in den rückständigen oder archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk zwangsläufig erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie erwidert?“ [4]

Dabei nannte er die Methode der Forschung den „präzisen Vergleich“, durchgeführt anhand der Beispiele in Polynesien, Melanesien, Nordwestamerika und diverser größeren Rechtssysteme. [5]

Betrachtet man den Austausch von Geschenken als soziales Phänomen, sollte man zunächst definieren, ab wann eine Transaktion als Geschenksaustausch gilt.

Es sollten keine Kosten für den Empfänger entstehen und ein Retourgeschenk darf nicht zur selben Zeit zurückgegeben werden – auf diese Weise entsteht ein soziales Netzwerk, da es die Menschen so miteinander verbindet und einander auch verpflichtet. Das Prinzip der Gegenseitigkeit wird als Reziprozität bezeichnet – eine Theorie, die sowohl von Lévi-Strauss als auch von Bourdieu aufgenommen wird. [6]

Der Gebende erwartet ein Gegengeschenk zu einem anderen Zeitpunkt oder zumindest Anerkennung und Dankbarkeit. Theoretisch erfolgt der Austausch freiwillig, ist aber unter diesem Aspekt gesehen nicht umsonst – Mauss nennt es das „System der totalen Leistungen“. Gleichzeitig ist der Austausch Teil bzw. Basis der Struktur einer Gesellschaft, somit liegen dem nicht nur rein ökonomische Interessen zugrunde. [7] [8]

Ein Beispiel für eine eher seltene Form der totalen Leistungen sind für Mauss die Indianerstämme der Tlingit und der Haida im Nordwesten Amerikas.

Hier ist es wichtig, den Begriff „Potlatsch“ zu erklären. Das Wort Potlatsch selbst ist ein Ausdruck für „ernähren“, „verbrauchen“ in der Sprache der Chinook-Indianer. [9]

Mauss beruft sich hier auf Boas, der auf dieses Phänomen zuvor bei den Kwakiutl in Nordamerika traf. [10]

Es handelt sich hierbei um ein Fest im Winter, bei dem sich Stämme gegenseitig beschenken, was insbesondere bei den eben erwähnten Stämmen oft ausufert, da jeder den anderen mit seinen Geschenken überbieten möchte und dies bis zur Zerstörung angehäufter Reichtümer führen kann. Aufgrund dessen bezeichnet Mauss diese Institution auch als „totale Leistung vom agonistischen Typ“. Ihm zufolge gibt es auch gemäßigtere Formen, insbesondere in der antiken indoeuropäischen Welt. [11]

Grundsätzlich teilt er den Prozess in drei Verpflichtungen: die des Gebens, des Annehmens und des Erwiderns. Die Verabsäumung eines dieser Punkte soll ihm zufolge in manchen Kulturkreisen einer Kriegserklärung gleichen. [12]

Mauss beschäftigte sich auch mit Malinowskis Bericht über die Trobriander und konnte dank seiner Sprachkenntnisse auch neue Schlüsse ziehen, die letzterem verborgen blieben. [13]

Die Trobriand-Inseln in Melanesien sind unter anderem Schauplatz für den Kula, der den intertribalen Handel fördert und durch Reisen ausgeführt wird.

Der Kula kann größer oder kleiner sein, es werden Seereisen gemacht, um andere Stämme mit Muschelketten (nur von Westen nach Osten) bzw. Armreifen (Osten nach Westen) beschenken, in der Gewissheit, nach einiger Zeit selbst Gaben zurückzubekommen (bei kleineren Reisen werden auch Frachten ausgetauscht, dies wird dann aber als gimwali bezeichnet). Auch hier darf man nach Erhalt einer Gabe nicht unmittelbar etwas zurückgeben.

Mauss kritisiert hier Malinowski indem er meint, dass dieser übertrieben habe mit der Darstellung der Tatsachen als Neuheit, die er in seinem Bericht beschrieb. Weiters deutet er verschiedene Szenen anders als Malinowski, was auf seine Kenntnisse in ozeanischen Sprachen zurückzuführen ist. [14]



Arnold van Gennep

Arnold van Gennep, von französisch-deutsch-niederländischer Herkunft (er wurde in Deutschland geboren), zählt zu den französischen Anthropologen.

Im Gegensatz zu Mauss und anderen Kollegen betrieb er wirklich Feldforschungen vor Ort und hatte ein Talent für verschiedenste europäische Dialekte.

Zu seinen Interessen gehörte auch die Folklore, was der Kreis um Durkheim wohl auch eher belächelte, dennoch veröffentlichte er mehrere Schriften dazu.

Er war auch einer von Durkheims Kritikern und hatte in verschiedenen Thematiken unterschiedliche Ansichten, beispielsweise in dessen Modell vom Totemismus. Im Gegenzug dazu wurde er von den dessen Anhängern auch nicht unbedingt Ernst genommen. [15]



Übergangsriten

Les rites de passage (1909) ist van Genneps bekanntestes Werk und seine hier ausgeführten Theorien über Rituale wurden seit ihrem Erscheinen im Großen und Ganzen nie in ihrem Fundament kritisiert. [16]

Parkin meint über dieses Werk, dass es im Wesentlichen von den Übergängen in verschiedene Zustände handelt.

Grundsätzlich teilt er ein Ritual in drei Etappen ein: das Verlassen des alten Zustandes, die Zeit danach - die Liminalität, also Übergangsphase – und letztlich das Eintreten in einen neuen. [17]

Entsprechend dieser Reihenfolge ordnet van Gennep jene Etappen den Unterkategorien der Übergangsriten zu: „… Trennungsriten („rites de séparation“), Schwellen- bzw. Umwandlungsriten („rites de marge“) und Angliederungsriten („rites d’agrégation“)…“ [18]

Van Gennep vertrat die Aussage, dass Rituale in allen Gesellschaften auf diese Art und Weise dreigeteilt sind, obwohl er zugab, dass die liminale Phase auch nur sehr kurz sein kann. [19]

Dennoch sollte angemerkt werden, dass er ausdrücklich betonte, dass er keineswegs alle Geburts-, Initiationsriten etc. lediglich als Übergangsriten sah.

Abgesehen vom Wechsel von dem einen Zustand in den nächsten haben diese auch jeweils spezielle Funktionen. Hier führte er unter anderem Bestattungszeremonien als Abwehrriten oder Hochzeitszeremonien als Fruchtbarkeitsriten an. [20]

Auch Eriksen führt über van Genneps Aussagen aus, dass die Gesellschaft sich über Rituale selber reproduziere, da auch durch die öffentliche Aufführung das Bewusstsein einer Integration in eben jener Gesellschaft gestärkt werde.

Im weiteren Verlauf weist er auch auf Victor Turner hin, der van Genneps Theorien weiterentwickelte während er bei den Ndembu im heutigen Zambia forschte – er schrieb den Ritualen sowohl einen integrativen Aspekt („communitas“) als auch eine mystische Erfahrung zu. [21]

In Übergangsriten schreibt van Gennep, dass ihm sowohl die Bedeutung als auch die Abfolgeordnung der Riten wichtig waren, aus letzterem kam schließlich seine Schlussfolgerung, dass sie im Wesentlichen immer gleich blieb, woraus er auf die bereits beschriebene Struktur schloss.

Weiters erwähnt er die „Umwandlungsphasen“, die gewissermaßen unabhängig sind, hierfür nennt er Schwangerschaft, Trauerzeit etc.

Auch werden Übergänge in Ritualen oft räumlich dargestellt, beispielsweise durch das Durchschreiten eines Tores oder Ähnlichem. [22]



Die Protostrukturalisten

So unterschiedlich Mauss und van Gennep gewesen sein mögen, beiden gemein ist, dass Durkheim auf sie Einfluss hatte, wenn auch dieser von unterschiedlicher Natur war: van Gennep widersprach ihm öfters, konnte seine Analyse der Rituale viel ausgefeilter und neuartiger entwickeln als jener und wurde von dessen „Fraktion“ eher unterschätzt. [23]

Mauss hingegen, als Durkheims Schüler, teilte in vieler Hinsicht dessen Sichtweisen und enthielt sich aus Loyalität jedweder Kritik, seine Schriften waren aber viel empirischer als die seines Onkels, was man – sofern man möchte – auch als Kritik betrachten könnte. [24]

Für Durkheim war die Religion ein zentrales Thema. Er behauptete, die Gesellschaft bete sich selbst an, da ihr jeweiliger Gott eine Darstellung ihrer selbst in symbolischer Form wäre.

Ihm zufolge soll sie auch die Religion dazu nutzen, um ihren Mitgliedern über öffentliche Rituale Werte aufzuerlegen, was in diesem Sinne Macht bedeute.

Van Gennep sah Rituale vor allem auch (aber nicht nur) als Übergänge zwischen Bedingungen und Zuständen, Aspekte der Macht sollen erst nachfolgend hinzugefügt worden sein. [25]

Aufgrund seiner Behauptung, dass alle Rituale in allen Gesellschaften prinzipiell immer die gleichen drei Phasen durchlaufen, kann man van Gennep schon als Protostrukturalisten bezeichnen. [26]

Die Gesellschaft spielte sowohl für van Gennep als auch für Mauss eine große Rolle und beide erkannten, dass sich Einzelphänomene erst durch ihre Einbettung in einem größeren Zusammenhang erklären lassen, was durchaus aus ihren Werken hervorging.

So erkannte Mauss die Wichtigkeit von Beziehungen und hatte mit seinen Theorien einen wesentlichen Einfluss auf Claude Lévi-Strauss, der bekanntlich als Gründungsvater des Strukturalismus gilt. [27]

Es ist durchaus berechtigt zu sagen, dass Mauss und van Gennep Wegbereiter des Strukturalismus waren. Mit ihren Theorien verfolgten sie bereits diese Richtung, gleichzeitig beeinflussten sie auch mit ihren Werken andere Anthropologen, die ihre Ansätze weiterentwickelten. So bildeten sie beide die Grundlage für eine neue Strömung und sind aus der heutigen Kultur- und Sozialanthropologie nicht wegdenkbar.


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Quellen:

Barth, Fredrik et al. 2005. One discipline, Four Ways: British, German, French and American Anthropology. Chicago

Barnard, Alan. 2000. History and Theory in Anthropology. Cambridge University Press

Eriksen, Thomas Hylland. 2001. Small Places, Large Issues: An Introduction to Social and Cultural Anthropology, Second Edition. London

Mauss, Marcel. 1999. Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main

van Gennep, Arnold. 1999. Übergangsriten (Les rites de passage). Studienausgabe - Frankfurt am Main

Internet: www.wissen.de. 10.01.2006-12.01.2006


Referenzen

[1] vgl. Parkin S. 187, 189

[2] vgl. Eriksen S. 17

[3] vgl. Mauss S. 10

[4] Mauss S. 18

[5] vgl. Mauss S. 20

[6] vgl. Eriksen S. 181-183

[7] vgl. Barnard S. 65

[8] vgl. Mauss S. 17, 22

[9] vgl. Gabe S. 23-25

[10] vgl. Eriksen S. 182

[11] vgl. Mauss S. 24-25

[12] vgl. Mauss S. 36, 37

[13] vgl. Evans-Pritchard in "Die Gabe" S. 11

[14] vgl. Mauss S. 54-56

[15] vgl. Parikin S. 180-182

[16] vgl. Parkin S. 181

[17] vgl. Parkin S. 182

[18] van Gennep S. 21

[19] vgl. Parkin S. 182

[20] vgl. van Gennep S. 22

[21] vgl. Eriksen S. 137, 138

[22] vgl. van Gennep S. 183-184

[23] vgl. Parkin S. 180-182

[24] vgl. Parkin S. 172-174

[25] vgl. Evans-Pritchard in "Die Gabe" S. 9

[26]vgl. Parkin S. 182

[27] www.wissen.de

[28] vgl. Parkin S. 189